Krieg oder Zukunft

Julija Steinmann hat ukrainisch-russische Wurzeln. Sie unterstützte Verwandte bei der Flucht und hat siebei sich untergebracht. Nun hilft die Hochdorferin ukrainischen Jugendlichen auf ihrem Weg in die Schweiz und bei deren Integration.

André Widmer

Von André Widmer

«Ich fühle mich schuldig», sagt die 17-jährige Lisa. Seit rund einer Woche ist die ukrainische Jugendliche nun in der Schweiz und lebt bei einer Familie in Baldegg. Jetzt sitzt sie an diesem sonnigen Montagnachmittag auf dem Sitzplatz von Julija Steinmann in Hochdorf mit weiteren ukrainischen Jugendlichen. Dmitry (17) pflichtet Lisa bei, auch er fühle sich schuldig, ins sichere Ausland geflüchtet zu sein, während der Rest der Familie im Krieg in der Ukraine zurückgeblieben ist. Oder, wie im Falle von der Mutter von Yasna (17) und Nina (14) wieder nach Kiew zurückgekehrt ist, weil sie ihren Mann nicht zurücklassen wollte, mit dem sie als Freiwillige in einem Spital hilft.

Verständlicherweise emotional hin- und hergerissen sind die Jugendlichen, denen die Hochdorferin Julija Steinmann in den letzten Tagen zur Flucht aus der Ukraine geholfen hat, das spürt man klar beim Gespräch. Dmitry, Jasna und Nina sind erst am Sonntag in Hochdorf eingetroffen, Tanja (18) vor zwei Wochen, Lisa (17) vor einer Woche. Der Kontrast zwischen ihrer Heimat Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, an deren Stadträndern gekämpft wird und praktisch jede Nacht Luftalarm ausgelöst wird, und dem beschaulichen Seetal könnte nicht grösser sein.

Es sei sehr hart emotional. Alles dort zu lassen, das Zuhause, die Familie. Tanja beispielsweise hat die Mittelschule besucht, hätte diese im kommenden Sommer beendet und wollte sich eigentlich in grafischer Animation weiterbilden. Dmitrys Ziel ist ein Uniabschluss in Jura.

Weiterentwicklung statt
Luftschutzbunker

Yasna und Nina, die beiden Schwestern, sprechen Deutsch. Lisa und Dmitry («Dima») sowie Tanja Englisch. Yasna, die 2021 ein Studium als Dolmetscherin begonnen hat, erklärt: «Wir verstehen, dass in der Schweiz wir jetzt mehrere Möglichkeiten für die Entwicklung und Ausbildung haben» – im Gegensatz zur Ukraine, wo sie in Luftschutzbunkern sitzen müssten und der Schulunterricht natürlich unterbrochen wurde. «Wir sitzen nicht einfach herum. Unser Ziel ist unsere Entwicklung und Ausbildung. Unser Land. Unsere Ukraine wieder aufzubauen», so Yasna.

Genau dort, bei der Zukunft der Jugendlichen, die nun auf derzeit unbestimmte Zeit in der Schweiz sein werden, setzt Julija Steinmann mit der Gruppe «Ukrainian minds of the future» an. Sieben Jugendlichen hat sie bereits in die Schweiz geholfen, sieben weitere sollen mindestens noch kommen. Es sind Jugendliche aus dem Freundes-, Bekannten- oder Verwandtenkreis und sie möchte sie in Gastfamilien vermitteln, denen sie vertraut. Das hat bisher auch gut geklappt. Bei ihr zu Hause in Hochdorf sind neben Tanja auch deren Mutter und Schwester von Juljia, Svetlana, und die 82-jährige Mutter untergebracht. Ein weiteres Zimmer mit zwei Schlafplätzen dient quasi als Zwischenstation, bevor die Jugendlichen zu den Familien vermittelt werden. Die Vollmacht der ukrainischen Eltern hat Julija Steinmann erhalten.

Nicht nur die Jugendlichen, auch Julija Steinmann befindet sich einer besonderen Lage. Einerseits ist sie organisatorisch, logistisch und finanziell stark in der Evakuierung der Jugendlichen eingespannt. Andererseits berührt die Hochdorferin mit ukrainisch-russischen Wurzeln der Krieg natürlich auch emotional sehr stark. Der Vater ist Russe, die Mutter Ukrainerin. Die Konstellation der sogenannten «Brudervölker» zeigt sich deshalb auch in ihrer Familie. Unverständlich für sie ist, dass offenbar schon Russen hierzulande für deren Herkunft kritisiert wurden. Schliesslich hat nicht das russische Volk den Krieg vom Zaun gerissen, sondern Präsident Wladimir Putin.

«Wir haben eine Kette
aufgebaut»

Julija Steinmanns Engagement für die Jugendlichen und damit die Zukunft ihres Heimatlandes Ukraine ist eine grosse Herausforderung für sie. Die Organisation der Flucht und der Ankunft lasse sich in mehrere Schritte unterteilen, schildert sie. «Wir haben eine Kette aufgebaut», sagt Steinmann. Zunächst erfolge der Weg an die ukrainisch-polnische Grenze. Nach einem Zwischenstopp bei einer Vertrauensperson in Polen geht es dann weiter. «Für Mädchen ist die Flucht gefährlich.» Einer Jugendlichen, die alleine unterwegs war, hat Julija Steinmann deshalb den Flug ab Krakow in die Schweiz bezahlt. Andere wiederum wurden von den Müttern gebracht, die wieder in die Ukraine zu ihren Männern zurückkehrten.

In der Schweiz angekommen können die Jugendlichen einige Tage bei Steinmanns verbringen, es muss eine Gastfamilie organisiert werden. «Bei der Unterkunft geht es in erster Linie darum, dass die Grundbedürfnisse abgedeckt sind», schildert Julija Steinmann. Auch die Anmeldung der Schutzsuchenden muss nun vonstattengehen. In den ersten Tagen mussten die ukrainischen Flüchtlinge sich noch zu einer der zunächst offenbar vom Ansturm überforderten, lediglich sechs Anlaufstellen des Bundes begeben, um sich für den Schutzstatus S anzumelden. Nun funktioniert dies immerhin bereits online. Sind Geflüchtete in privaten Unterkünften zu Gast wie die Jugendlichen in Hochdorf, sollten sie sich auch bei der Gemeinde anmelden. Auch hier lief zu Beginn noch nicht alles rund, musste Julija Steinmann doch zunächst die 35 Franken für die Wohnsitzbescheinigung für die Schutzsuchenden entrichten. Immerhin soll dies nun zurückerstattet werden.

Deutschkenntnisse aneignen

Auch wie es mit der mittel- und allenfalls längerfristigen Integration der Jugendlichen während ihres Aufenthaltes weitergeht, steht noch in den Sternen. Yasna und Nina sind bei den bereits eingetroffenen und den noch zu erwartenden ukrainischen Jugendlichen mit ihren Deutschkenntnissen jedenfalls die Ausnahme. Julija Steinmann möchte das Erlernen der Sprache bei den Jugendlichen vorantreiben. «Sie brauchen eine Sprachschule. Der Besuch des Gymnasiums ohne Sprachkenntnisse ist nicht möglich», erläutert Steinmann. Immerhin ist sie bereits fündig geworden mit der Jakobs School in Zürich, die ab Schuljahr 2022/23 eine Klasse für 14 ukrainische Jugendliche anbieten will – es entstehen dort keine Schulgeldkosten und auch die Verpflegungskosten würden übernommen. Das habe Vorbildcharakter, meint Steinmann hierzu. Sie hofft, dass die Behörden hier finanziell Hand bieten werden. Denn derzeit stemmt die Hochdorferin, die selber Inhaberin von zwei Firmen ist, vieles mit ihrem eigenen Geld.

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