Engelsgrab – spezieller Ort der Erinnerung

Ende Oktober erhält der Friedhof in Hochdorf ein Engelsgrab und neue Kindergräber. Es soll die würdige Bestattung von früh- und tot geborenen Kindern erleichtern.

Pfarrerin Marie-Luise Blum (ref.-evang.) und Roland Häfliger (kath.) segnen gemeinsam das Engelsgrab auf dem Hochdorfer Friedhof ein. Das Grab steht allen offen, unabhängig von Herkunft und Religion.
Werner Rolli

Ein Kind zu verlieren, ist in jedem Fall ein traumatisches Erlebnis. Stirbt ein Kind vor oder bei der Geburt  spricht man im Fachjargon von perinatalem Kindstod. Ab der 22. Schwangerschaftswoche wird dies als Totgeburt bezeichnet. Diese Kinder werden als juristische Personen anerkannt und im Familiennachweis eingetragen. Erfolgt der Kindstod aber vor der 22. Schwangerschaftswoche wird es standesamtlich nicht erfasst. Es hat also – rechtlich gesehen – nie existiert.

Die Realität ist, laut Anna Margareta Neff, Leiterin der Fachstelle Kindsverlust in Bern, dass Eltern bei Fehl- und Totgeburten keine Erinnerungen an ihr Kind haben und auch von der Gesellschaft nie als Eltern anerkannt werden – die Trauer kann mit niemandem geteilt werden. Auch juristisch habe dies Folgen, so werde beispielsweise bei Tot- oder Fehlgeburt kein Vaterschaftsurlaub gewährt.

Wie mit Föten umgegangen wird, fällt überwiegend in die Kompetenz der Kantone. Föten wurden in der Regel zusammen mit anderen Operationsabfällen kremiert. In den letzten Jahren hat aber ein Umdenken stattgefunden. So ist heute eine Bestattung von tot- und frühgeborenen Kindern in allen Kantonen möglich, mancherorts gar für Kinder vor der 12. Schwangerschaftswoche. Aufgrund eines Postulates hat der Bundesrat 2017 beschlossen, dass Eltern bei einer Fehlgeburt für ihr Kind eine Urkunde beantragen können. Die Bestattung ist an einigen Orten trotzdem möglich. Ab November verfügt auch der Friedhof in Hochdorf über ein Engelsgrab und neue Kindergräber. Die Anlage ist auf Antrag der Friedhofkommission der Gemeinde Hochdorf durch den Werkdienst erstellt worden.

Bestattung von Fehlgeburten
erst seit Kurzem möglich

Im Engelsgrab sind Urnenbestattungen von Fehlgeburten, Totgeburten oder Kindern, welche innerhalb von sieben Tagen nach der Geburt verstorben sind, möglich, wie Lea Bischof-Meier, Gemeindepräsidentin von Hochdorf und Präsidentin der Friedhofkommission, auf Anfrage sagt. Erdbestattungen und Bestattungen von später als sieben Tage nach der Geburt verstorbenen Kindern sind in den Kindergräbern möglich.

Lea Bischof-Meier, sagt weiter: «Eine Erinnerungs- und Gedenkstätte für zu früh- oder totgeborene Kinder ist wichtig. Der Verlust eines Kindes – unabhängig vom Alter – ist mit grosser Trauer verbunden. Der Schmetterling mit den bunten Flügeln in der Mitte des Engelsgrabes symbolisiert die Einzigartigkeit und zeigt mit den ausgespannten Flügeln das Wegfliegen in die Natur, in die Sonne.» Der künstlerische Schmuck ist von Elias Eberli aus Altwis geschaffen worden.

Mit der Einsegnung sind Pfarrer Roland Häfliger und Pfarrerin Marie-Luise Blum betraut. Roland Häfliger ist auch Mitglied der Friedhofkommission. Aus seiner Praxis als Seelsorger weiss er, wie wichtig eine Einrichtung wie das Engelsgrab ist: «Ich bin dankbar, dass es dieses Engelsgrab gibt. Es entspricht einem Bedürfnis, Kinder, die früh- oder totgeboren werden, oder bis zum 6. Lebensjahr sterben, würdig zu bestatten. Es ist wichtig, dass man als Familie auch von einem verstorbenen Kind angemessen Abschied nehmen kann.»

Marie-Luise Blum fügt an: «Egal, welcher Konfession jemand angehört, es handelt sich hier um einen öffentlichen Friedhof. Somit ist die religiöse Zugehörigkeit unerheblich. Ich möchte aber auch ergänzen, dass ich in meiner Praxis als Seelsorgerin oft mit Frauen zu tun habe, die mittlerweile 40, 60 oder älter sind und den Verlust eines Kindes immer noch nicht ganz verarbeitet haben. Mit ihnen besuche ich gerne einen Friedhof. In Zukunft kann ich sie konkret zu dieser Gedenkstätte begleiten und an diesem Grab noch etwas aufarbeiten. Sie können hier mithilfe von Ritualen etwas ‹beerdigen›, was nie richtig bestattet wurde. Das ist eine Wunde, die nie verheilen konnte. Ich bin überzeugt, dass aus einer Wunde letztlich eine Kraft entstehen kann.»

Marie-Luise Blum ergänzt: «Bei der Trauerarbeit werden die Väter oft vergessen. Es wird erwartet, dass sie stark sind. Sie verdrängen die Trauer oder vergessen schlicht, was ein solch einschneidendes Ereignis mit ihnen macht. Dabei ist das Kind doch auch ein Teil von ihnen. Schön, gibt es jetzt einen Ort, an dem sich alle mit ihrem Verlust konkret auseinandersetzen können.»

Wer sich nicht, oder nicht direkt, an die Seelsorge wenden mag, kann sich auch andernorts Hilfe holen. Am bekanntesten ist die Fachstelle Kindsverlust, die in der ganzen Deutschschweiz tätig ist. Leiterin Anna Margareta Neff geht von rund 20 000 Fehlgeburten pro Jahr aus. Sie bedauert, dass Frauen nach einer Fehlgeburt häufig keine weitere Betreuung erfahren. Eltern mit einem gesunden Neugeborenen hätten selbstverständlich Unterstützung durch die Hebamme und sie profitierten von der Mütter- und Väterberatung. «Auch vor, während oder nach einer Fehlgeburt dürfen die Frauen, respektive die Eltern, von einer Hebamme begleitet werden. Leider wissen das die meisten Eltern nicht. Zudem wird kein Vaterschaftsurlaub gewährt. Dabei wäre es wichtig, dass auch die Männer Trauerarbeit leisten», sagt Neff.

Fachstelle hilft und vermittelt

Die Fachstelle Kindsverlust wurde 2003 aus einer gemeinsamen Initiative von Fachpersonen verschiedener Disziplinen gemeinsam mit betroffenen Eltern gegründet. Seitdem ist die Fachstelle Kompetenzzentrum für nachhaltige Unterstützung beim Tod eines Kindes «in der Schwangerschaft, während der Geburt und erster Lebenszeit». Die Fachstelle berät und begleitet betroffene Eltern und vermittelt auf Wunsch Kontakte zu Fachpersonen in der jeweiligen Wohngemeinde. Neff: «Jede Familie ist willkommen, sich telefonisch beraten zu lassen. Wir fassen dieses Telefonat schriftlich zusammen und klären dann weitere Bedürfnisse ab. Die Fachstelle vermittelt eine Fachperson für eine persönliche, kontinuierliche Beratung, sie vermittelt, vernetzt und unterstützt auch bei juristischen Fragen, bei Fragen rund um die Krankenversicherung und bei Abschiedsritualen.»

Zuhören können, ein «grosses Ohr» zu haben, wie Roland Häfliger es ausdrückt, sei ganz wichtig. Auch Rituale helfen. So hat Roland Häfliger erlebt, dass Eltern ihrem totgeborenen Kind einen Namen gaben und nahestehende Personen schriftlich zur Bestattung eingeladen haben. Häfliger findet den Platz für das Engelsgrab und die Kindergräber gut gewählt – mitten drin, nicht irgendwo abseits in einer Ecke. Marie-Luise Blum findet die Symbolik gelungen: «Man hat bewusst keine Engelsfiguren, sondern einen Schmetterling als Schmuck gewählt. Das ist nicht nur konfessionsneutral, sondern auch ein lebensbejahendes Symbol, das wir aus vielen Kinderbüchern kennen. Dieser Schmetterling kann im übertragenen Sinne irgendwann auch davonfliegen, sprich, die Hinterbliebenen können loslassen.» Sie gewännen Distanz. Sie könnten jedoch jederzeit zurückkehren an eben diesen speziellen Ort der Erinnerung, denn: «Das Leben geht weiter.»

Roland Häfliger und Marie-Luise Blum legen Wert auf die Feststellung, dass das Engelsgrab für alle Kinder – unabhängig von Religion oder Herkunft –
zugänglich ist. Eine Bestattung muss auch nicht zwingend durch einen Pfarrer erfolgen.

Die Einsegnung am 29. Oktober ist öffentlich, die Feier beginnt um 11 Uhr.

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