Kirchenaustritte sind schwer zu beziffern

Die Kirchgemeinden im Luzerner Seetal stellen eine Zunahme bei den Kirchenaustritten fest. Sie richteten deshalb Forderungen an die Synode, die gestern stattfand. Sie suchen aber auch aktiv das Gespräch mit Gläubigen oder überweisen die Kirchensteuer auf ein Sperrkonto.

Symbolbild: In der Zeit von Mitte September bis Mitte Oktober wandten sich mehr Menschen als üblich von der Kirche ab. Fotos Werner Rolli
Werner Rolli

Kirchenaustritte haben Hochkonjunktur. Das hört und liest man dieser Tage in allen Medien. Das Problem dabei ist, dass genaue Zahlen nur schwer zu eruieren sind. Das zeigte auch die Umfrage des «Seetaler Bote» bei den Kirchgemeinden im Luzerner Seetal.

Die vier Kirchgemeinden Schongau, Aesch-Mosen, Müswangen und Hitzkirch bilden gemeinsam den Pastoralraum Hitzkirchertal. Lukas Wedekind, Präsident des Regionalen Kirchenrats nimmt Stellung: «In der Zeit seit dem 1. Oktober 2023 zeigt sich in den vier Kirchgemeinden bei den Kirchenaustritten ein uneinheitliches Bild. In den einzelnen Gemeinden sind die Austritte stabil, erhöht oder gar sinkend. Somit lassen sich auch keine einheitlichen Aussagen über die künftige Entwicklung der Austrittszahlen machen.» Konkrete Austrittszahlen nennt Lukas Wedekind nicht. Gründe für den Austritt würden meist nicht genannt. Wedekind: «Die meisten Austrittsschreiben erreichen uns in der standardisierten Form ohne Angabe von Gründen mit der klaren Aufforderung, keinen Kontakt zu suchen. Auch bei uns wurden Kirchenrätinnen und Kirchenräte in den letzten Wochen auf die aktuelle Entwicklung in Zusammenhang mit der Publikation der Missbrauchsstudie angesprochen.»

Die Kirchenräte im Hitzkirchertal richteten keine Appelle an die Kirchenbürgerinnen und Kirchenbürger, nicht aus der Kirche auszutreten, erklärt Lukas Wedekind weiter: «Dennoch sind auch sie tief betroffen von den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen und vertrauen darauf, dass die mit der Aufarbeitung befassten Verantwortlichen im Bistum, der Landeskirche und vor allem auch im Rahmen der kommenden Treffen der Katholischen Zentralkonferenz zukunftsweisende Beschlüsse treffen, um beim Kirchenvolk wieder Vertrauen zu schaffen.»

Kirchgemeinden reagieren unterschiedlich

Stefan Küttel, Leiter des Pastoralraums Oberseetal, sagt zum Thema Kirchenaustritte, dass dies sehr unbürokratisch von sich gehe und es formal nur sehr wenige Hürden gebe, was vielen Leuten nicht bewusst sei: «Es muss in einer Form der Wille ausgedrückt werden, dass man austreten will unter Angaben der Personalien, wie Name, Vorname, Adresse, allenfalls Geburtsdatum, damit man die Person eindeutig identifizieren kann.» Der Austritt muss schriftlich (keine E-Mails) erfolgen, mit persönlicher Unterschrift. Gründe müssen laut Küttel nicht angegeben werden, obwohl dies natürlich immer sehr interessiere, «weil wir nur so die Möglichkeiten bekommen uns und die Angebote zu optimieren.»

Stefan Küttel vertritt drei autonome Kirchgemeinden, die beim Thema Missbrauch unterschiedlich reagieren. So möchte Ballwil den Druck auf die Bistumsleitung möglichst hochhalten und hat sich dazu entschieden, direkt ein Prozent der Kirchensteuern – von den acht Prozent, die an die Landeskirche gehen – auf ein Sperrkonto einzuzahlen. In Ballwil hofft man, dass die Synode einen ähnlichen Entscheid trifft. Eschenbach verweist auf die Synode vom Mittwoch, die für die Beiträge ans Bistum zuständig ist. Es wird erwartet, dass das Sprechen von Geldern an den Bischof an die rasche Umsetzung der obigen Forderungen geknüpft wird. Inwil unterstützt ebenfalls die Bemühungen in der Synode und behält sich, sollte diese nicht in Sinn des Kirchenrats entscheiden, weitere Schritte wie etwa das Einbehalten von Geldern, vor. Die verschiedenen Kirchgemeinden haben weitere Forderungen an die Synode formuliert. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe lagen keine Beschlüsse oder Stellungnahmen vor.

Alle drei Kirchgemeinden des Pastoralraums Oberseetal würden das Thema sehr ernst nehmen die Forderungen der Römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ) nach einem Kulturwandel, sowie einem Wandel bei den Strukturen. Konkret fordert diese, dass Bischof Joseph Maria Bonnemain eine unabhängige Fachperson für Ermittlungen in Strafverfahren zur Seite gestellt wird. Bonnemain ist vom römischen Dikasterium für die Bischöfe beauftragt, eine Voruntersuchung gegen vier Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz zu führen und darüber einen Bericht nach Rom zu schicken. Die externe Fachperson soll mithelfen, die Ermittlungen fachkompetent durchzuführen, Zudem wäre sie Gewährsperson für die Öffentlichkeit, dass die Voruntersuchung ­seriös stattgefunden hat.

Zudem fordert die RKZ das Einrichten einer unabhängigen Meldestelle für Missbrauchsfälle und die Errichtung eines nationalen Strafgerichtshofs mit Beteiligung der RKZ. Das Präsidium fordert zudem, dass die Schweizer Bischöfe in gleicher Weise wie ihre deutschen Kollegen anerkennen, dass das partnerschaftliche Leben – abgesehen von den zum Zölibat verpflichteten Personen – weder anstellungs- noch kündigungsrelevant ist.

Kirchgemeinden überweisen kein Geld nach Rom

Patrizia Boesch, Präsidentin des Pastoralraums Baldeggersee erklärt: «Der Pastoralraum zählt total 8596 Katholiken. Seit dem 1. Oktober mussten wir 73 Austritte verzeichnen». Hat die Austrittswelle ihren Höhepunkt bereits überschritten oder steht er noch bevor? Boesch: «Das ist schwer zu beurteilen. Jeder Austritt schmerzt, denn von den erhaltenen Kirchensteuern verbleiben 95 Prozent vor Ort. Mit einem Ausbleiben der Kirchensteuern werden viele gute Werke gefährdet und die finanziellen Mittel fehlen, um Jugend, Familien, ältere Menschen und Vereine in ihren Projekten zu unterstützen». Patrizia Boesch klärt zudem das Missverständnis, dass die Kirchgemeinde Steuergelder an das Bistum Basel oder gar den Vatikan in Rom überweisen würden. Korrekt ist: «dass die Steuergelder an die Landeskirche des Kantons gehen. Diese wiederum überweist einen kleinen Prozentsatz ans Bistum». Konkret legt sie Synode – das 100-köpfige Kirchenparlament – die Beiträge an den Bischof fest.

Laut Patrizia Bosch reagieren die Kirchgemeinden auf jeden Austritt mit einem Brief. Die Kirchgemeinden bieten Hand für ein Gespräch. Im persönlichen Gespräch könne noch viel geklärt werden, sagt Boesch: «Denn unsere engagierten Mitarbeitenden in der Kirche vor Ort haben nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun. Diese erbringen täglich sehr wertvolle Arbeit für die Gläubigen im Pastoralraum Baldeggersee». Manche Gläubige würden auch aktiv das Gespräch suchen und Pfarrer Urs Elsener und das ganze Seelsorgeteam nähmen sich gerne Zeit dafür.

Urs Elsener schildert ein Telefongespräch. Diese Person habe betont, nicht wegen den Missbrauchsfällen auszutreten, sondern aus anderen Gründen: «Schliesslich haben wir vereinbart, dass wir uns darüber einmal in einem persönlichen Gespräch austauschen werden. Und dann gab mir diese Person ein eindrückliches Bild. Sie sagte: ‹Wenn ich bei einer Apfelernte 2-3 faule Äpfel habe, werde ich deswegen sicher nicht die ganze Ernte wegwerfen. Man darf jetzt nicht einfach alle Priester, Ordensleute und kirchlichen Mitarbeiter/innen in den gleichen Kübel werfen. Da muss man unbedingt differenzieren.›»

Patrizia Boesch legt Wert auf die Feststellung, dass im Pastoralraum Seetal auch fünf Kircheneintritte zu verzeichnen sind. Dabei handle es sich laut Boesch um Personen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben noch für einen Eintritt oder Wiedereintritt in die Kirche entschlossen haben.

Für Stefan Amrein, Präsident des Vereins «Kirchenaustritt» in Sursee, ist es keine Überraschung, dass die Kirchenaustritte aktuell wieder zunehmen. Auch die Tatsache, dass die Austrittswelle wieder abebbt: «Medien-beiträge wirken jeweils als Trigger. Menschen, die sich sowieso schon Gedanken über einen Kirchenaustritt machen, schreiten dann zur Tat. Meist regt sich die Aufregung wieder, womit auch die Austritte wieder auf ein normales Niveau sinken».

Der Verein wurde 2010 gegründet, unter anderem als Reaktion auf Missbrauchsvorwürfe, aber auch um den Kirchenaustritt so einfach und un-bürokratisch wie möglich zu gestalten. Es gibt weitere Vereine und Institutionen, die sich an Austrittswillige richten. Manche dieser Beratungs- und Dienstleistungen sind gratis, andere sind kostenpflichtig.

Seit Mitte September stellt der Verein Kirchenaustritt laut Amrein eine rund 15-fach höhere Zugriffsrate auf die Website zu. Alleine im September habe man rund 75 000 Zugriffe auf die Website registriert. Allerdings: «Inwiefern sich das Austrittsinteresse in tatsächliche Kirchenaustritte umgesetzt hat, wird erst im Oktober 2024 die Statistik für das Jahr 2023 zeigen.»

Der Verein berät Austrittswillige, aber nicht nur. «Wir wollen ja niemanden zum Austritt überreden,» sagt Stefan Amrein: «Wir beraten Menschen, die Fragen rund um das Thema haben oder sich von Kirchgemeinden unfair behandelt fühlen. Seit drei Jahren bieten wir auch ein Formular zum Kirchen­eintritt an».

Jungwacht sorgt sich

Nicht nur Kirchgemeinden, auch Vereine sind in der aktuellen Situation betroffen. So fordert die Jungwacht Blauring (Jubla) Schweiz in einem offenen Brief an die Schweizer Bischofskonferenz, datiert vom 3. November, eine lückenlose Aufklärung der Missbrauchsfälle und Reformen innerhalb der katholischen Kirche. Mit über 33 000 Mitgliedern ist Jungwacht Blauring der grösste katholische Kinder- und Jugendverband in der Schweiz. Zu den Forderungen gehören unter anderem «eine externe Überprüfung von Missbrauchsfällen, eine transparente Aufarbeitung, die Gleichstellung aller Geschlechter, die Anerkennung von queeren Menschen, die Abgabe von Macht und den Ausbau der Präventionsarbeit, gemeinsam mit der kirchlichen Jugendarbeit.»

Austrittszahlen

Kanton Luzern Kirchenaustritte aus der römisch-katholischen Kirche: schwankend mit Tendenzen. Dies schreibt das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut SPI in St. Gallen auf seiner Website. Das SPI untersucht den religiösen Wandel in der gegenwärtigen Gesellschaft.

Die Kirchenaustrittsraten der vergangenen Jahre pro 1000 Kirchenmitglieder waren in den Kantonen im Durchschnitt sehr unterschiedlich, schreibt das SPI auf seiner Website. Zu beachten sei, dass es sich dabei um eine Momentaufnahme von zwei Jahren handle.

Da die Kirchenaustritte in den einzelnen Kantonen von Jahr zu Jahr Schwankungen unterliegen, sei bei der Interpretation eine gewisse Vorsicht geboten. Im Kanton Luzern nehmen die Austritte seit Jahren kontinuierlich zu, konkret: 2013: 1526; 2014: 1639; 2015: 1988; 2016: 2046; 2017: 1993; 2018: 2508; 2019: 3280; 2020: 3758; 2021: 4057; 2022: 4161. SB

Trotz allem bietet die Kirche für viele Gläubige eine spirituelle Heimat.

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