Berührende Orgelklänge dank Fingerspitzengefühl
Die Haut ist unser grösstes Sinnesorgan. Sie erfüllt zahlreiche lebenswichtige Funktionen und ist immer in irgendeiner Form präsent. Ob wir uns in der Badi einen Sonnenbrand holen, von einer lästigen Mücke gestochen werden oder uns jemand den Nacken massiert; die Haut registriert dies zuerst. Der Tastsinn hilft dabei, im Dunkeln den Schlüsselbund aus der Hosentasche zu fischen oder die heisse Oberfläche eines Bügeleisens vom kalten Türgriff der Autotüre zu unterscheiden. Die Haut ist nicht überall gleich empfindlich: Tastpunkte – im Fachjargon Mechanorezeptoren genannt – finden sich besonders dicht an Fingerspitzen, Handinnenflächen, Lippen und Zunge. Dadurch sind diese Körperstellen empfindlicher als andere. Das können all jene bestätigen, die sich einmal die Lippen oder die Zunge verbrannt haben.
Die Rezeptoren der Haut sind auch enorm wichtig für die soziale Interaktion und die emotionale Bindung. So vermissten viele Menschen während der Pandemie das Händeschütteln. Medizinische Untersuchungen haben sogar einen Zusammenhang zwischen den Überlebenschancen von Neugeborenen und Körperkontakt festgestellt. Kinder und auch Erwachsene profitieren von Körperkontakt. So können Berührungen den Ausstoss des «Glückshormons» Dopamin oder Oxytocin – auch bekannt als Bindungshormon –begünstigen.
Einen besonderen Tastsinn – oder muss man vom Tastensinn sprechen? – braucht auch André Stocker. Er ist Organist in der Kirche St. Martin in Hochdorf. Von seinem Fingerspitzengefühl hängt unter anderem ab, wie sein Instrument klingt. Musik ist Teil seines Lebens, seit seiner Kindheit. In der 4. Klasse trat er in den Jugendchor ein: «Das ist aber etwas ganz anderes als das, was man heute unter dem Jugendchor versteht. Das war damals eine Gruppe von Sängern, Buben, Mädchen, die in der Kirche am Morgen früh in den Gedächtnis- und Jahrzeitgottesdiensten gesungen haben». Dabei stand der ganze Chor um die Orgel herum: «Und das war natürlich sehr interessant, zuzusehen, wie der Organist die Manuale und das Pedal betätigte und die Register zog.» Ja, das hat wahrscheinlich das Interesse zu diesem Instrument geweckt. André Stocker stammt aus Inwil, seine Matura hat er in Engelberg abgeschlossen, wo er sieben Jahre die Stiftsschule besuchte. Er trat sogar dem Benediktinerorden bei, habe aber schnell gemerkt, dass dies für ihn nicht der richtige Weg sei. Er studierte in Basel Geschichte und Musikwissenschaft. Später absolvierte er eine Ausbildung als Organist an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik in Luzern. 2003 schliesslich erlangte er die Konzertreife. Seine erste Anstellung als Organist fand er in Inwil und Eschenbach. Seit 27 Jahren wirkt er in der Kirche St. Martin in Hochdorf.
Obschon heute auch Orgelkurse für Kinder angeboten werden, war es früher üblich, dass angehende Organisten erst einmal das Klavierspiel erlernen sollten. Für André Stocker machte das auch Sinn: «weil ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass man die Technik des Spiels, die Geläufigkeit, auf der Klaviertastatur erlernt». Der Klavieranschlag sei ideal, um die Geläufigkeit zu üben.
Der Orgelanschlag ist zum Teil schwerer. Das hat mit der ganzen Funktion des Instrumentes zu tun. So man muss da zum Beispiel einen gewissen Druckpunkt überwinden, bis man den Ton erzeugt. Und beim Klavier ist das beträchtlich einfacher. Auch in der französischen Orgelschule sagt man, dass eine gute Klaviervorbildung notwendig ist. Davon bin ich selbst auch überzeugt. Denn irgendwann, wenn man auf dem Instrument weiterkommen will, muss man eine gewisse pianistische Grundlage haben». Aber der frühe, kindgerechte Orgelunterricht seisicher bestens geeignet, junge Menschen für die Orgel zu begeistern.»
Die Orgel in Hochdorf wird im Jahr 1694 erstmals erwähnt. Das aktuelle Instrument wurde 1986 im Anschluss an die Kirchenrenovation gebaut. Die Orgelbauer der Firma Goll in Luzern übernahmen den Hauptwerksprospekt sowie 17 Register der Orgel von 1886 und bauten auf dieser Grundlage ein dreimanualiges Instrument mit 42 Registern und total 2938 Pfeifen, mechanischer Traktur und elektronischer Setzeranlage. Die Setzeranlage wurde 2004 auf 6720 Kombinationen erweitert.
André Stocker erklärt: «Man unterscheidet zwischen mechanischer, pneumatischer und elektrischer Traktur. Von jeder Taste muss man eine Verbindung zu den Pfeifen haben, die zum Teil recht weit weg sind. Das hat man ganz am Anfang, bei den ersten Orgeln, mechanisch gelöst. Das ist ein System von abstrakten, feinen Holzleisten, die zum Teil über Winkel oder sogar über ein Wellenbrett zu den Windladen gehen, wo die Pfeifen draufstehen. Am Schluss steht ein Ventil, das geöffnet wird, sodass Luft in diese Pfeifen strömt und den Ton erzeugt».
Das mechanische System braucht gemäss dem Organisten auch einen differenzierten Anschlag. Man könne ein Legato spielen, ein Non-Legato, sogar ein Staccato: «Doch muss man sich immer bewusst sein, dass der Ton eine gewisse Zeit braucht, bis er anspricht.» Bei der pneumatischen Traktur funktioniert die Verbindung mit Luftdruck, also über Bleiröhrchen, die zu den Ventilen führen. Und noch etwas später wurde die elektrische Traktur entwickelt. Dabei wird gar kein Widerstand erzeugt. André Stocker schätzt die mechanische Traktur sehr, aufgrund ihrer Zuverlässigkeit. Allerdings müssen die Finger beim Spielen einen Tastendruck von bis zu 200 Gramm Widerstand überwinden. Das Repertoire an Orgelmusik ist breiter, als man denken würde, etwa «die Orgelmeister im 17. Jahrhundert, Samuel Scheidt oder Girolamo Frescobaldi oder dann die grossen Barockmeister, also Buxtehude, Sebastian Bach in Norddeutschland und Johann Pachelbel in Mitteldeutschland. Es gibt auch eine französische Schule und ganz dankbare englische Orgelmusik». Das Instrument ist zwischen 757 und 812 durch byzantinische Gesandtschaften über Ostrom nach Westeuropa gelangt. Mit der Zeit hat sich die Orgel auch als kirchliches Instrument etabliert. Ursprünglich war die Orgel im alten Rom ein Zirkusinstrument.
Auf dem Klavier kann man praktisch alles spielen. Wie unterscheidet sich die Orgel von anderen Tasteninstrumenten? Ist das Repertoire eingeschränkt? «Bis in die Barockzeit», erklärt André Stocker, «gab es eine gemeinsame Literatur für Tasteninstrumente, die man sowohl auf dem Cembalo, auf dem Klavichord, aber auch auf den Orgeln spielen konnte. Aber wenn sie zum Beispiel einen ausgeprägten Pedalpart haben, wie das bei einer Bachfuge oder einem Präludium der Fall ist, dann bringen Sie das auf dem Klavier zum Teil mit den beiden Händen nicht mehr hin. Das können Sie nicht mehr greifen. Umgekehrt kann ich zum Beispiel eine Beethoven-Sonate, die wirklich typisch auf das Klavier und auf die Möglichkeiten und die Dynamik des Klaviers abgestimmt ist, auf der Orgel nicht mehr spielen. Es gibt seit dem 19. Jahrhundert eine Trennung von Klavier- und Orgelliteratur».
Fachkräftemangel macht sich auch in der Kirche bemerkbar. Obwohl André Stocker, der Ende Jahr in Pension geht, kein Theologe ist, braucht es für das Organistenamt gewisse Grundkenntnisse in diesem Bereich. Es gibt Versuche, den Nachwuchs zu fördern. Ein Orgelbauer hat dafür sogar spezielle Aufsteckpedale für Kinder entwickelt. Im Konzertzyklus «Orgelpunkte» Hochdorf mit vier Konzerten in den Wintermonaten zeigt die Orgel als Soloinstrument oder im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten und Stimmen ihre Vielfalt und Klangfülle. Und berührende Musik soll ja bei gewissen Menschen eine Gänsehaut hervorrufen ...
Als blinde Menschen lesen lernten
Dieses Jahr wird die Schrift für blinde Menschen 200 Jahre alt. Es dauerte allerdings Jahrzehnte, bis sich die Brailleschrift etablieren konnte. Dies schreibt der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (sbv) auf seiner Website.
Der Franzose Louis Braille (1809 – 1852) erblindete mit fünf Jahren vollständig. Er experimentierte mit Lederstücken und vereinfachte und optimierte bestehende Schriften, die er an der Blindenschule kennengelernt hatte. Das System der Brailleschrift funktioniert binär wie ein Computer. Mit nur sechs Punkten, in zwei senkrechten Reihen zu je 3 Punkten angeordnet, kann sie 64 verschiedene Zeichen darstellen.
Dank ihrer Vielseitigkeit ist die Brailleschrift international. Sie wird nicht nur in allen Ländern mit lateinischer Schrift verwendet (wobei die Sonderzeichen hier teilweise doppelt belegt sind). Auch in Sprachen, deren Schwarzschrift ganz anders ist, verwenden blinde Menschen Braille. So im Arabischen, dessen Zeichen Silben abbilden und die von rechts nach links gelesen wird, im Russischen, Chinesischen, Japanischen usw. Je komplexer das Schriftsystem, desto grössere Anpassungen sind nötig. Aber Braille ist auch in diesen Sprachräumen die populärste Version einer Schrift für blinde und sehbehinderte Menschen. Einzige Ausnahme sind einige indigene Sprachen, die gar kein etabliertes Schriftsystem haben. Auch für Musik oder Mathematik gibt es Braille-Notationen.
Der logische Aufbau der Brailleschrift machte es schon früh möglich, eine Braille-Schreibmaschine zu entwickeln. Sie braucht lediglich sechs Tasten, eine Taste für jeden der sechs Punkte der Brailleschrift. Damit lassen sich alle 64 Kombinationen tippen. Auf den meisten Handys gibt es schon im Betriebssystem voreingestellt die Möglichkeit, auf eine Braille-Tastatur zu wechseln. Diese bildet die Tastatur einer Braille-Schreibmaschine ab. Die so getippten Nachrichten werden vom Handy in Schwarzschrift übersetzt.
Als die ersten PCs auf den Markt kamen, waren sie sehr schnell auch für blinde Menschen nutzbar: Dank der Braille-Zeile, die schon im Jahr 1978 patentiert wurde. Die Braille-Zeile wird der Tastatur angeschlossen und gibt Text auf dem Bildschirm in Brailleschrift aus: kleine «Stössel» heben und senken sich und bilden so die Braille-Buchstaben. Das ist besonders praktisch, wenn man am Tippen ist und ab und zu kurz kontrollieren will, ob die Rechtschreibung korrekt ist.
Dank der Braille-Zeile wurde Informatik sehr früh an den Blindenschulen unterrichtet, und blinde Menschen hatten dadurch in der Frühzeit der PCs einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt. Viele von ihnen arbeiteten schon effizient mit PCs, als die sehenden Mitarbeitenden noch lange an der Schreibmaschine sassen.
Alternative: Reliefschrift
Obwohl die Brailleschrift so vielseitig ist, gibt es eine bekannte Alternative dazu: Die so genannte «Relief-Schrift». Ihre Buchstaben sehen aus wie diejenigen der Schwarzschrift und werden als tastbare Erhebungen gestaltet. Insbesondere Personen, die spät erblinden, lernen sie manchmal statt Braille. Wer sein Leben lang ans lateinische Alphabet gewohnt war, kann sich schwertun, spät noch ein anderes System zu lernen. Zudem setzt die Brailleschrift mit ihren feinen Punkten ein sehr gutes Gespür in den Fingern voraus. Bei manchen Erkrankungen oder bei häufiger Arbeit mit den Händen kann die Sensibilität der Finger im Alter nachlassen.
Die Relief-Schrift braucht aber viel mehr Platz als Braille. Und sie zu lesen ist umständlicher, weil sie nicht für den Tastsinn optimiert ist. Relief wird daher vor allem für einzelne Wörter oder kurze Texte, beispielsweise bei Aufzügen oder Schildern, gebraucht.
Screenreader und Apps mit Texterkennung können heute zwar viel: Sie lesen jeden digitalen Text vor, können dank KI auch immer mehr Texte des Alltags wie Verpackungen oder Türklingeln entziffern. Allerdings können sich viele Menschen sich keine langen Texte merken, wenn sie sie nur hören. Selbst wenn man gut übers Gehör lernt, hilft es, bei komplizierten Texten ein Wort zweimal lesen oder einen Satz noch einmal von vorne beginnen können. Mit Braille läuft das wie mit Schwarzschrift nebenbei; mit Screenreadern muss die gewünschte Stelle mühsam gesucht werden.
Viele blinde Menschen beschriften im Haushalt ihre Medikamente, Gewürze oder Kleider mit Braille (mit selbstklebenden Etiketten) – jedes Mal mit dem Handy zu lesen, wäre viel umständlicher. Auch die Orientierung im öffentlichen Raum – Lifttasten, Schilder, Gleise, Haltestellen die mit Braillebeschriftet sind, erleichtern blinden Menschen die Orientierung.
Nicole Weber, sbv
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