Begleiterinnen auf dem Lebensweg
Sandra Schöpfer-Burri, als Hebamme begleiten Sie die Menschen am Anfang des Lebens. Was ist es für ein Gefühl, beim ersten Atemzug eines Kindes dabei zu sein?
Schöpfer-Burri: Es ist ein heiliger Moment. Es spielt keine Rolle, was für ein Kampf zuvor über Stunden stattgefunden hat – der Moment, wo das Kind das Licht der Welt erblickt, der ist einfach wunderschön. Selbst nach über 20 Jahren als Hebamme fasziniert es mich noch immer, wie so ein Mensch überhaupt heranreifen kann.
Was für Emotionen durchleben Sie nach einer Geburt?
Schöpfer-Burri: Das können ganz unterschiedliche sein. Meistens sind es aber ganz klar Glücksgefühle. Jedes Lebewesen, das gesund und unbefangen in die Welt startet und mit Liebe empfangen wird, ist für mich ein grosses Geschenk.
Claudia Drysdale Stettler, Sie begleiten als Sterbebegleiterin Menschen am Ende des Lebens. Wie ist es, beim letzten Atemzug eines Menschen dabei zu sein?
Drysdale Stettler: Auch das ist ein heiliger Moment. Was für ein Leben ein Mensch gelebt hat, ist häufig auch prägend fürs Sterben. Jeder Fall ist anders. Aber wenn jemand geht, verspüre ich fast immer einen enormen Frieden. Dann öffne ich ein Fenster, damit die Seele ins Freie kann. Für mich ist das Sterben auch eine Art Geburt.
Können Sie das erklären?
Drysdale Stettler: Die Sterbenden gehen in eine Welt über, die sie nicht kennen, genau wie ein Neugeborenes. Zudem rufen die Sterbenden manchmal nach der bereits verstorbenen Mutter oder dem Partner. Dann habe ich das Gefühl: Sie werden genauso empfangen wie die Kinder bei der Geburt.
Sandra Schöpfer-Burri, auch Sie sind im Alltag mit dem Tod konfrontiert.
Schöpfer-Burri: Ja. Es kann bereits in der Schwangerschaft zu Komplikationen kommen, bei denen eine Mutter das Kind noch im Bauch verliert. Oder es kommt bei der Geburt zu einer unvorhergesehenen Risikosituation. Wenn ein Baby still geboren wird, ist das für mich jedes Mal wieder ein Schockmoment. Durch die jahrelange Erfahrung weiss ich zwar, wie ich damit umgehen muss – daran gewöhnen werde ich mich aber nie. Hast du dich an den Tod gewöhnt, Claudia?
Drysdale Stettler: Nein, denn jeder stirbt anders. Bei jedem Einsatz weiss ich nicht, was auf mich zukommt. Es gibt auch keinen Standardsatz, den man nach dem Tod den Angehörigen sagen könnte. Ich erlebe auch immer wieder Fälle, die mir besonders nahe gehen.
Zeigen Sie in so einem Moment Ihre eigenen Gefühle?
Drysdale Stettler: Ja, ich finde es sehr wichtig Mitgefühl zu zeigen. Wenn die Angehörigen vor mir heulen, kommt bei mir manchmal auch eine Träne. Das ist menschlich.
Wie ist das bei Ihnen als Hebamme?
Schöpfer-Burri: In so einer emotional schwierigen Situation kann ich nicht die Kontrolle verlieren. Dafür hat es in dem Moment keinen Platz. Ich muss stark bleiben und funktionieren. Das heisst aber nicht, dass es mich nicht berührt. Im Gegenteil: Wenn ein Kind vor, während oder nach der Geburt stirbt, beschäftigt mich das manchmal noch sehr lange.
Was hilft Ihnen bei der Verarbeitung?
Schöpfer-Burri: Der Halt in der Familie und das Team sind für mich sehr wichtig. Mit dem Team arbeite ich den Fall dann nochmals auf. Das rate ich auch den Paaren, die bei der Geburt etwas Traumatisches in jeglicher Art erlebt haben. Zudem schöpfe ich viel Kraft aus der Natur. Mich wieder zu erden und das innere Urvertrauen zurückzugewinnen – das brauche ich dann. Sonst kann dich das emotional zerfressen.
Drysdale Stettler: Das kann ich nachvollziehen. Mir gibt die Natur auch viel Kraft. Wenn ich nach einem Einsatz nach Hause komme, gehe ich oft mit meinen Hunden spazieren.
Was motiviert Sie zum Weitermachen?
Schöpfer-Burri: Ich erinnere mich immer an das Gute. Die allermeisten Kinder kommen gesund auf die Welt und die Geburten verlaufen problemlos. Das wird oft vergessen.
Drysdale Stettler: Und bei mir kann es auch schön sein, wenn ein Mensch gehen kann. Es kommt vor, dass die Sterbenden Schmerzen haben und auf den Tod warten. Ein Mann hat einmal zu mir gesagt: «Hat mich der liebe Gott vergessen?» Das Sterben war für ihn eine Erlösung, auf die er sich gefreut hatte.
Macht es bei der Trauer einen Unterschied, ob ein junger oder ein alter Mensch stirbt?
Drysdale Stettler: Das macht für mich schon einen Unterschied. Bei meinen Begleitungen besteht oftmals die Hoffnung darauf, dass die Menschen endlich gehen dürfen. Und bei den Kindern hofft man natürlich, dass sie leben. Zudem habe ich es selten mit einem plötzlichen Tod zu tun. Damit umzugehen, finde ich nochmals schwieriger, als wenn die Angehörigen sich darauf vorbereiten und sich vom Sterbenden verabschieden können. Aber die Trauer kann ihnen trotzdem niemand nehmen.
Schöpfer-Burri: Das sehe ich auch so. Ich finde es zwar schwer, die Trauer zu messen oder zu werten – aber ich glaube die Hilflosigkeit ist bei einem plötzlichen Tod grösser. Vielleicht macht es das Wissen bei einer älteren Person einfacher, wenn der Mensch ein würdevolles Leben hatte und er seine Wünsche und Träume leben durfte. Bei einem Kind ist das hingegen anders. Ein eigenes Kind in die Arme zu schliessen ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das man zuvor noch nie erlebt hat. Genauso unbeschreiblich muss es auch sein, das eigene Kind wieder gehen zu lassen.
In anderen Kulturen ist es üblich den Tod zu feiern. Denken Sie, das würde den Trauerprozess in unserer Gesellschaft vereinfachen?
Drysdale Stettler: Das muss jeder so machen, wie es für ihn stimmt. Bei uns ist die Trauer schon sehr in der Kultur verankert. Ich finde es aber wichtig, dass sich Sterbende und Hinterbliebene bereits im Vorhinein damit auseinandersetzen, wie der Abschied aussehen soll.
Schöpfer-Burri: Ich finde auch, dass man das Thema einfach viel mehr ansprechen müsste. Der Tod ist in der Gesellschaft eher noch ein Tabuthema. Claudia, du bist da gedanklich schon viel weiter als ich. Ich merke, dass ich mich noch zu wenig mit dem Sterben auseinandergesetzt habe.
Während Corona wurde man mehr mit dem Thema konfrontiert. Denken Sie, dass sich dadurch in der Gesellschaft etwas verändert hat?
Drysdale Stettler: Ich glaube schon. Die Menschen schauen jetzt bewusster hin und befassen sich mehr mit dem Thema – auch Jüngere. Die Caritas bietet Kurse für Sterbebegleitungen an. Diese werden stark besucht. Bei der Begleitgruppe haben wir aber trotzdem Mühe die Abgänge zu ersetzen. Was meinst du Sandra, wir suchen noch Leute?
Schöpfer-Burri: Im Moment ist es gut so, wie es ist. Ich hätte einen riesengrossen Respekt davor. Aber ich finde es etwas sehr Wichtiges und Würdevolles, was ihr macht. Wir Hebammen könnten viel von euren Erfahrungen lernen. Viele sind sich nach dem Verlust eines Kindes nicht sicher, ob sie jetzt richtig reagiert haben. In der Hebammenausbildung werden wir darauf oft nicht genügend vorbereitet.
Drysdale Stettler: Ich glaube es gibt kein Richtig oder Falsch. Das Wichtigste ist, sich selbst zu sein. Wir sind bei der Begleitgruppe elf Frauen und jede ist anders – aber das sind auch die Sterbenden oder bei dir die Eltern. Ich entscheide sehr oft aus dem Bauch und dem Herzen heraus. Man braucht ein Gespür dafür.
Wie reagieren die Menschen eigentlich darauf, wenn Sie ihnen erzählen, dass Sie als Sterbebegleiterin arbeiten?
Drysdale Stettler: Die Sterbebegleitung wird manchmal mit Sterbehilfe verwechselt. Dann muss ich den Unterschied erklären. Die Menschen reagieren aber oft mit grossem Interesse. Es entwickeln sich immer spannende Gespräche. Allerdings höre ich oft die Worte: «Ich könnte das nicht.» Und viele staunen, dass jemand die Arbeit freiwillig macht.
Wie können Sie sich das erklären?
Drysdale Stettler: Die Menschen haben Angst davor, dem Schmerz von jemand anderem zu begegnen. Das ist nicht jeder Person gegeben. Viele finden zu der Arbeit, weil sie selber schon einmal mit dem Tod konfrontiert wurden.
Und wie reagieren die Menschen darauf, wenn Sie ihnen von Ihrem Beruf als Hebamme erzählen?
Schöpfer-Burri: Die Menschen reagieren meistens sehr positiv und neugierig. Ich erlebe es als sehr schön anderen mitzuteilen, was ich mache. Viele Frauen sagen mir sogar, dass sie sich den Beruf als Zweitausbildung vorstellen könnten.
Wäre das auch etwas für Sie, Claudia Drysdale Stettler?
Drysdale Stettler: Ich weiss nicht, ob ich die Geduld mit den Müttern hätte.
Schöpfer-Burri: Ich glaube du würdest dir Geduld aneignen. Hebamme ist so ein schöner Beruf. Auch ich entscheide sehr viel aus dem Bauch heraus. Es ist eben eine Herzensangelegenheit. Und ich bin überzeugt: Die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Während Corona haben sich viele mit sich selber auseinandergesetzt und sich auf das konzentriert, was wirklich wichtig ist im Leben. Das hat vielen den Mut gegeben eine eigene Familie zu gründen. Es gibt nun ganz viele Corona-Babys.
Drysdale Stettler: Das Leben kommt und das Leben geht. Damit schliesst sich der Kreislauf.
Schöpfer-Burri: Und dieser ist vom ersten Atemzug an geschrieben.
Sandra Schöpfer-Burri startete 1996 die Ausbildung an der Hebammenschule Luzern. Danach arbeitete die 43-Jährige 19 Jahre als Hebamme im Kantonsspital Luzern und ist nun seit vier Jahren freiberuflich in der Hebammenpraxis Thuja in Inwil tätig. Schöpfer-Burri ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern zwischen 10 und 16 Jahren in Inwil.
Seit 17 Jahren leistet Claudia Drysdale Stettler Einsätze für die Sterbebegleitgruppe Hochdorf und Umgebung – im Januar übernahm sie mit Luzia Marty die Leitung. Drysdale Stettler wohnt in Inwil, hat zwei erwachsene Söhne und ist verheiratet. Neben der ehrenamtlichen Arbeit als Sterbebegleiterin führt die 54-Jährige eine Praxis für Numerologie, Energiearbeit und Lebensberatung. mst
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