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Seetal | Rain

«Es war eine praktische Theologie»

Nach dem Tod von Papst Franziskus am Ostermontag und vor dem Konklave  steht die katholische Kirche nicht automatisch vor einer Richtungswahl, erklärt der in Rain wohnhafte Kirchenhistoriker Markus Ries. 

André Widmer

Unter grosser Anteilnahme haben am letzten Samstag viele Menschen im  Vatikan und in Rom Abschied von Papst Franziskus genommen. Am Mittwoch nächster Woche beginnt das Konklave, das seinen Nachfolger bestimmen wird. 

 

Papst Franziskus war 12 Jahre im Amt. Welche Bilanz ziehen Sie?

Markus Ries: Die Amtszeit war ein Sprung nach vorne: ein Papst aus Südamerika mit einer entschlossen neuen Sicht auf den Glauben und auf die Gesellschaft.

Sie sind Kirchenhistoriker. Wie lässt sich das Pontifikat von Papst Franziskus nach den eher konservativen Päpsten Johannes Paul II und Benedikt XVI einordnen?

Franziskus unterschied sich von seinen Vorgängern, weil er sich sichtbar und bewusst den Rändern zuwandte. Er stellte die nicht privilegierten Menschen ins Zentrum. In Fragen des Glaubens stand er mit beiden Beinen auf dem Boden, bei der Gestaltung des religiösen Lebens war er dem Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet.

Die Erwartungen waren damals gross, als der Argentinier Jorge Maria Bergoglio zum Papst gewählt wurde. Hat er sie erfüllt?

Ja und nein. Als Persönlichkeit war er überzeugend, kommunikativ und vorbildlich; er erkannte die Zeichen der Zeit und ging darauf ein. Viele haben darüber hinaus gehofft, dass 
er gesellschaftliche Errungenschaften wie Chancengleichheit, Partizipation und Subsidiarität auch für die Kirche fruchtbar macht. Hier hat er Gläubige enttäuscht: Als 2016 die Fusswallfahrt der Schweizer Aktion «Kirche mit den Frauen» nach Rom stattfand, fand er keine Zeit für ein Gespräch und ein Gebet mit dieser Gruppe; und die Chancen des Synodalen Weges in Deutschland hat er nicht erkannt.

Spürt man ihrer Meinung nach Prägungen, die Philosophie von Papst Franziskus bis hinunter in die Pfarreien, zum Beispiel im Kanton Luzern?

Nein, das wäre nicht seine Aufgabe. Der Papst ist die Nummer 1 im Kollegium der Bischöfe, aber er ist nicht der Präsident aller Pfarreien auf dieser Welt. Wir sind eine Kirche, kein Königreich mit Vasallen und auch kein Konzern mit Filialen. Das wäre gegen die Tradition und nicht katholisch.

Papst Franziskus war ein Papst, der für die Schwachen eingestanden ist. Aus den Analysen nach dem Tod lässt sich ableiten, dass er weniger der Theologe war als sein Vorgänger Papst Benedikt. Was sagen Sie zu dieser Einschätzung?

Franziskus führte durchaus theologische Debatten – aber es war eine praktische Theologie: Barmherzigkeit, Hoffnung, Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit, Klimawandel, Migration. Das unterscheidet ihn tatsächlich von seinem Vorgänger: Benedikt XVI. verfasste während seiner Amtszeit ein dreibändiges, gelehrtes Werk über Jesus Christus.

Papst Franziskus hat auch zu Kriegen und Konflikten Stellung genommen. Wird die katholische Kirche generell politischer?

Die Aufgabe der Menschen in der Kirche – auch des Papstes – ist es, Christus zu bezeugen, und uns auf die Seite der Leidenden zu stellen. Deshalb wird unsere Aktivität automatisch auch politisch, sobald Menschen unter Kriegen leiden.

Hat Papst Franziskus im Bezug zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle genug getan?

Er hat sich hier persönlich engagiert und auch den direkten Kontakt mit Betroffenen gesucht. Hilfreich wäre natürlich gewesen, er hätte dezentralere Wege unterstützt. Indem er alle Verfahren weiterhin nach Rom zog, machte er sie schwerfällig. Die Chancen, welche Erfahrungen weit entwickelter ziviler Strafrechtssysteme bieten, liessen sich damit nicht zugunsten der Betroffenen nutzen.

Die grossen Reformen wie die Priesterweihe für Frauen oder auch das Ende des Zölibats, wie wohl eher progressivere Kräfte in Mitteleuropa es gerne sehen würden, blieben aus. Wie realistisch ist es, dass diese Änderungen jemals kommen werden?

Selbstverständlich ist der Prozess der Gleichstellung der Geschlechter auch in der Kirche im Gang und wird zu mehr Gerechtigkeit führen. Solche Veränderungen funktionieren mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Man kennt das aus dem Geschichtsunterricht: In Finnland wurde das Frauenstimmrecht 1906 eingeführt, in Schweden 1921, in der Türkei 1934, in der Schweiz aber erst 1971.

Sind grössere Reformen mit einem Papst aus dem globalen Süden, wo möglicherweise noch ein konservativeres Weltbild herrscht, überhaupt denkbar?

Ja, das sind sie. Allerdings haben viele Menschen im globalen Süden eine andere Vorstellung von grösseren Reformen als wir in Europa. Das betrifft nicht nur die Religion, es betrifft auch die Wirtschaft oder die Sozialpolitik.

Braucht die katholische Kirche für eine Erneuerung ein neues vatikanisches Konzil? Das Zweite und bisher letzte endete 1965.

Ein nächstes allgemeines Konzil ist sicher wünschenswert. Ich erwarte aber, dass es nicht ein «vatikanisches» sein wird, sondern dass es im Sinne von Öffnung und Vielfalt an einem anderen Ort stattfinden wird. Von den bisher 21 ökumenischen Konzilen wurden gerade einmal sieben in Rom durchgeführt, die übrigen 14 anderswo.

In Mitteleuropa verlieren sowohl die katholische Kirche als auch die reformierte Kirche die Mitglieder. Wird der Glaube privater?

Ja, die Praxis des Glaubens ist bei uns in einem starken Umbruch begriffen. Beteiligung und Zugehörigkeit in der bisherigen Form gehen zurück, in vielen Klöstern verstummt das Lob Gottes. Für uns bekennende und überzeugte Gläubige ist das natürlich eine schmerzhafte Erfahrung. Und es ist eine Herausforderung, in diesem Fall buchstäblich bis hinunter in die Pfarreien im Kanton Luzern. Verlaufen die Prozesse weiterhin in die gleiche Richtung, werden wir entscheiden müssen, in welchen Dörfern wir die Kirche stehen lassen und wo wir sie abbrechen.

Bald beginnt das Konklave. Unter Papst Franziskus wurden viele nun stimmberechtigte Kardinäle aus aussereuropäischen Ländern ernannt. Wird das diese Wahl stark beeinflussen?

Ja, das wird eine eigene Dynamik geben. Sie entsteht nicht allein durch die Herkunft aus aussereuropäischen Ländern, sondern sie entsteht vor allem aus dem Umstand, dass viele Kardinäle einander nicht gut kennen.

Ist diese Wahl eine Richtungswahl?

Nicht automatisch. Aber die Kardinäle haben es in der Hand, daraus eine Richtungswahl zu machen. Das System ist allerdings noch immer auf Geheimhaltung angelegt. Schöner wäre es, die Kardinäle würden mit uns Gläubigen im Austausch stehen. So wie es hier im politischen Alltag selbstverständlich ist: Die Mächtigen im Dorf und im Land müssen sich in die Karten schauen lassen, sie schulden uns Rechenschaft.

Was erwarten Sie persönlich vom neuen Papst?

Wir Gläubigen dürfen erwarten, dass der nächste Papst – gleich wie sein Vorgänger – persönlich ein Beispiel gibt für ein Leben in der Nachfolge Christi. Und dass er alles daran setzt, die Kirche auch insgesamt zu einem Vorbild für die Gesellschaft werden zu lassen. Vergessen Sie nicht: Diese Position hatten wir in der Geschichte durchaus. Und die Kirche hat das Potenzial, auch künftig wieder beispielhaft voranzugehen, sodass die Leute überall sagen: Schaut – so wie die müssen wir es machen.


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