Im Minutentakt durch das Seetal
05:55 Der Zug fährt in Lenzburg ein. Genau neun Minuten hat Selina Moos jetzt Zeit, um den Führerstand zu verlassen, «ihren» Zug zu inspizieren und ihren Arbeitsplatz – jetzt am anderen Ende des Zuges – herzurichten. «Das Signal zeigt Halt», leuchtet da eine Anzeige, darüber ein Tachometer für die Geschwindigkeitsangabe. Links davon werden die Stationen eingeblendet. Weitere Kontrollen für Heizung, Türöffnung, dann natürlich die Fahr- und Bremshebel, die Lokpfeife.
Letztere ist im Seetal öfters im Einsatz. «Erfahrene Lokführer haben mich vorgewarnt, dass das Seetal etwas speziell sei und dass ich lieber einmal zu viel und vor allem lange genug die Lokpfeife betätigen soll», erzählt Selina Moos.
Wie ist die junge Frau aus dem Kanton Luzern zu ihrem Beruf gekommen? «Es liegt in der Familie,» erklärt sie: «Mein Bruder ist Lokführer und hat mir immer vorgeschwärmt, wie cool dieser Beruf sei. Ich konnte mir das erst gar nicht vorstellen. Irgendwann habe ich mich dann beworben und durfte die Ausbildung machen. Unterdessen ist Lokführerin ein absoluter Traumberuf geworden.»
Vom Blumenladen in den Führerstand
Sie habe ursprünglich Floristin gelernt, mit Technik hatte Selina Moos nicht viel am Hut. «Ich schätze den Kontakt mit Passagieren und gebe auch gerne Auskunft, bin aber ganz gerne alleine im Führerstand. Im Verkauf wurde es mir irgendwann zu hektisch».
06:35 Nachdem der Zug Beinwil am See passiert hat, erblickt man auf der linken Seite (in Fahrtrichtung Luzern) den Hallwilersee und die Berge. Es ist dieser Streckenabschnitt, der Selina Moos besonders gut gefällt.
«Im Seetal gefällt mir der Streckenabschnitt zwischen Mosen und Beinwil sehr gut. Die Stimmung am Morgen früh ist unglaublich. Besonders schön ist es im Herbst, wenn sich die Blätter an den Bäumen verfärben. Wie wurde Lokführerin doch noch zum Traumberuf? «Mich fasziniert die Natur, die Stimmungen am Morgen oder am Abend oder die verschiedenen Jahreszeiten. Ich schätze es einfach, Tageslicht zu sehen, was bei meinem Job als Floristin leider nicht möglich war. Manchmal winken Kinder dem Zug, da winke ich gerne zurück.» Unterdessen habe sie sich auch mit der Technik angefreundet und repariere kleinere Defekte gerne selbst.
Wie ist es möglich, die Aussicht zu geniessen, bei so viel Verantwortung – das Einhalten des Fahrplans, die Sicherheit, die Technik? Am Anfang sei das tatsächlich sehr anstrengend und auch ermüdend gewesen, sich auf die Fahrt zu konzentrieren. Mit der Zeit kennt man die Strecke, weiss, wo die heiklen Stellen sind. Je mehr Routine man hat, desto eher kann man tatsächlich die Fahrt durch die Landschaft geniessen. Aber gerade die Bahnübergänge erfordern mehr Aufmerksamkeit.
Wie sieht der Tagesablauf der Lokführerin aus, fällt es ihr leicht, so früh aufzustehen und fit zu sein für den Dienst? «Ich brauche einfach meine acht Stunden Schlaf. Das macht es natürlich nicht einfach, wenn man Freunde treffen will. Aber es ist alles eine Frage der Organisation. Es gibt Lokführer, die lieber in den Abendstunden arbeiten, ich persönlich bevorzuge den Frühdienst. Ich schätze es, den Nachmittag frei zu haben. Tagsüber frei zu haben und dann am Abend zur Arbeit fällt mir da schon etwas schwerer.» Aber es sei alles auch eine Frage der Einstellung. Sie selbst kann gut mit dem Frühdienst leben, weiss aber, dass das sehr individuell ist.
Die Ausbildung zur Lokführerin dauerte 1 1/2 Jahre, von Oktober 2019 bis April 2021. Die Ausbildung (in Luzern) bezieht sich auf die Standorte Luzern, Beinwil am See, Zug, Goldau. Anschliessend verdient man sich seine Sporen mit dem «Seetaler», bevor man grössere Züge und weitere Distanzen fahren darf. Meist wechselt man nach zwei Jahren auf eine neue Strecke, erklärt Selina Moos und ergänzt: «Als Lokführerin im Seetal fahre ich aber auch die S1 nach Sursee und Baar oder Brunnen. So ist das Berufsleben abwechslungsreich.»
Sieben Fahrzeugtypen
Was war die grösste Herausforderung in dieser Ausbildung? All die Vorschriften, meint sie. Es gebe so viele davon und sie sind ja auch wichtig, sie müssen unbedingt eingehalten werden. Dann wurden die angehenden Lokführer/innen mit sieben Fahrzeugtypen konfrontiert: «Ich musste den Aufbau und die Funktionsweise dieser Fahrzeuge erlernen und muss wissen, welche Störungen da auftreten können und wie ich diese selbst beheben kann. Das war sehr anspruchsvoll. Und auch die Schichtarbeit war neu für mich.»
06:59 In Hochdorf kreuzen sich zwei Züge. In Richtung Luzern steigen fünf Personen und ein Hund zu.
Wie gelingt es, den Fahrplan einzuhalten? Die Strecke ist eingleisig, die Züge können lediglich an acht Orten kreuzen, pro Fahrt kreuzt man sich normalerweise fünf Mal. «Bei uns geht Sicherheit vor dem Fahrplan. Im Seetal ist es schon so, dass wir unterwegs leichte Verspätungen einfahren. Am Ende der Strecke stimmen aber die Ankunftszeiten dann wieder. Da wurde zum Glück immer genug Zeit eingerechnet. Aber man sollte im Seetal immer sein Picknick dabei haben, falls der Zug mal stecken bleibt.» Kommt das häufig vor? «Nein, aber es ist mir einmal passiert, dass ich nicht weiterfahren konnte, weil ein anderer Zug auf der Strecke liegen blieb. Das kann eine Stellwerkstörung sein oder ein Zwischenfall an einem Bahnübergang.»
Auch ein Computer
Welchen Zug, welche Lok würde die junge Frau gerne einmal lenken? Ihr Traum wäre eine Fahrt mit dem Giruno ins Tessin. Am liebsten natürlich über die alte Bergstrecke. Oder eine Re420 zu fahren, die im Personenverkehr nur noch selten eingesetzt wird. Die Lok habe noch eine Stufenschaltung. «Ausser dem Domino haben alle Züge, die ich fahre einen Joystick, da wird alles elektronisch geregelt. Man kann sich das Fahrzeug als riesigen Computer vorstellen. Aber man muss schon wissen, dass die Fahrzeuge unterschiedliche Bremssysteme haben und je nach Witterung auch längere Bremswege. Es stresst mich nicht, unterschiedliche Fahrzeuge zu lenken, im Gegenteil: Ich schätze die Abwechslung.»
07:13 Waldibrücke. Hier muss ein Gegenzug abgewartet werden. Gelegenheit, noch einmal das Bergpanorama zu geniessen. Kampfjets donnern über unsere Köpfe hinweg ...
Wie findet Selina Moos einen Ausgleich zum Beruf? «Ich treibe gerne Sport, gehe gerne Joggen oder ins Fitnessstudio und liebe es, in den Bergen zu wandern.»
Und fügt an: «Im Seetal haben wir ganz tolle Fahrgäste. Da gibt es kaum Reklamationen wegen Verspätungen. Die Leute grüssen freundlich und winken uns zu. Das ist toll, dass die Leute hier so locker drauf sind.»
07:28 Luzern: Endstation, wir bitten alle Fahrgäste, auszusteigen.
Zeitzonen
Als der Bundesrat entschied, dass ab dem 1. Juni 1894 auch in der Schweiz die mitteleuropäische Zeit (MEZ) zu gelten habe, provozierte er damit heftige Proteste. Es war just die Eisenbahn, die mit dazu beitrug, dass die Zeit neu geregelt wurde. Bis 1894 orientierte sich jede Gemeinde – etwas vereinfacht gesagt – an der Sonne. Stand diese am höchsten Punkt, musste es folglich zwölf Uhr mittags sein. Als immer mehr Eisenbahnlinien gebaut wurden, liess sich diese archaische Zeitrechnung nicht mehr halten. Sie hätte die Koordination eines Fahrplans verunmöglicht.
Schlimmer noch, die falsche Uhrzeit konnte gefährlich sein. Am 12. August 1853 ereignete sich auf der «Providence and Worcester Railroad» in Valley Falls eine Frontalkollision zwischen zwei Zügen, weil der Lokführer, der einen Gegenzug abwarten sollte, sich auf seine Taschenuhr verliess und zu früh losfuhr. Es waren die USA, die sich der Sache annahmen –nicht etwa die Regierung, sondern die seit jeher privaten Eisenbahngesellschaften Amerikas. Sie griffen 1883 eine revolutionäre Idee auf: Zeitzonen. Der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming hatte bereits eine Lösung parat. Fleming schlug vor, die ganze Welt in 24 Sektoren aufzuteilen, die von der Sonne in jeweils einer Stunde durchlaufen werden. Innerhalb dieser Sektoren sollten künftig alle Uhren eine einheitliche Standardzeit anzeigen.
Europa ist zwar kleinräumiger als die USA, die fehlende Zeitkoordination führte aber vor allem im internationalen Bahnverkehr zu chaotischen Zuständen, weil jede Nation seine eigene Einheitszeit eingeführt hatte. Am Bodensee etwa mit seinen damals fünf Anrainerstaaten galten so in einem einzigen Bahnhof fünf unterschiedliche Zeiten.
Erst 1893 wurde die Standardzeit in Deutschland und den meisten europäischen Ländern eingeführt – per Dekret Kaiser Wilhelms: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich. Dieses Gesetz tritt mit dem Zeitpunkt in Kraft, in welchem nach der festgelegten Zeitbestimmung der 1. April 1893 beginnt.
Die Zeitumstellung wurde in den Siebzigerjahren wiederum zum heiss diskutierten Thema. Die Schweiz hinkte der Einführung der Sommerzeit – nicht zuletzt aus politischen Gründen – hinterher. Im Sommer 1980 wurde die Schweiz zur «MEZ-Zeitinsel» in Europa, nachdem die Nachbarländer die Uhren in der Nacht auf den 6. April um eine Stunde vorgestellt hatten. Die SBB mussten nach einem Notfahrplan fahren, Grenzgänger arbeiteten in Sonderschichten. Viele Betriebe in der Schweiz richteten sich nach der deutschen Zeit.
Erst 1981 verabschiedete das Parlament schliesslich ein Gesetz zur Regelung der Sommerzeit. Ein Referendum dagegen scheiterte kläglich.
Designikone
Bahnhofsuhr Wer kennt sie nicht, die Bahnhofsuhr? Sie wurde 1944 vom Schweizer Ingenieur und Gestalter Hans Hilfiker entworfen und gilt als Vorbild für Bahnhofsuhren weltweit. Das reduzierte Design des Zifferblatts macht die Uhr auch von Weitem gut lesbar.
Charakteristisch ist der rote Sekundenzeiger in Form eines dünnen Stabs mit runder Endscheibe, die an die Befehlskelle des Stationsvorstands erinnert. Dieser läuft etwas zu schnell, bleibt dafür zu jeder vollen Minute ca. 1,5 Sekunden stehen, um auf das Minutensignal zu warten. Diese technische Besonderheit erleichterte stets das Abfertigen der Züge.
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