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Seetal | Hochdorf

Er dachte die Jugendarbeit neu

Während 16 Jahren stand Karl Weingart für die Jugendlichen in Hochdorf ein. In dieser Zeit hat er Seifenkistenrennen und Partys organisiert. Weingart musste sich aber auch mit Drogeneskapaden und Rassismus herumschlagen.

Wenn Karl Weingart an seine Jugend zurückdenkt, fällt ihm schnell das Wort «Aussenseiter» ein. «Ich war als Junge sehr scheu», erinnert sich der heute 64-Jährige. Weingart weiss wie es ist, wenn man sich als junger Mensch an einem neuen Ort integrieren muss. Der in Zürich aufgewachsene Schweizer mit indischen Wurzeln verbrachte den grössten Teil seiner Jugend in einem Internat weit ab von der Grossstadt. In Flüeli-Ranft und Sarnen besuchte er ein Franziskaner-Internat. Seine Eltern hätten dies so gewollt, erzählt er. «Ich war als Junger zwar kein Querulant, aber auch nicht der Einfachste», sagt er lachend. Bei den zumeist ländlich geprägten Schülern im Obwaldner Internat fiel Weingart aus der Reihe. Sein Kleiderstil war anders, sein Musikgeschmack sowieso. «Ich war grosser Led Zeppelin-Fan, das war damals im ländlichen Obwalden alles andere als normal.» Kurz; der Junge aus Zürich war ein Exot, oder in den Augen seiner Mitschüler: ein Freak.

 

Gespräche anstatt Repression

Auch wenn diese Zeiten längst vorbei sind und Karl Weingart von sich selbst sagt, dass er als Erwachsener lernte «sich anzupassen», ist vom stillen Rebellen, der gegen den Strom schwimmt, durchaus etwas geblieben. Weingart, der sich in einer Stadt eigentlich viel wohler fühlen würde, entschied sich vor 16 Jahren ins bürgerlich geprägte Hochdorf zu ziehen. Hier stellte sich der studierte Ethnologe einer grossen Herausforderung. Er übernahm eine dem Untergang geweihte Jugendarbeit. «Die damalige Jugendkommission wollte die Jugendarbeit eigentlich gänzlich auflösen, weil sie sich mit meinen Vorgängern zerstritten hatte. Mir gaben sie sozusagen die letzte Chance», erinnert sich Weingart. Kaum im Amt, setzte der neue Jugendarbeiter Akzente. In den ersten Jahren entstand wenige Meter von Weingarts Wohnort ein Skaterpark für 42 000 Franken. Viele Diskussionen seien nötig gewesen. «Wenn es ums Geld ging, brauchte es immer viel Überzeugungsarbeit, doch Hochdorf zeigte sich stets offen, wenn man den Nutzen eines Projekts aufzeigen konnte.»

 

Einen neuen Weg schlug Weingart im Umgang mit Drogenabhängigen ein. Vor gut zwölf Jahren konsumierten beim Lunapark zahlreiche Jugendliche offen Drogen. Mit den Substanzen wurde auch gedealt. Anstatt sich dem Problem zu verwehren und die Sache der Polizei und ihrer Repression zu überlassen, nahm Weingart den direkten Kontakt mit den Jugendlichen auf. Er und seine Mitarbeiterin stellten mitten auf dem Platz einen Container und richteten darin für einen Monat ihr Büro ein. Die Jugendlichen seien anfangs noch zögerlich gewesen, hätten mit der Zeit aber immer mehr Vertrauen zu ihnen aufgebaut. Für Weingart war dieser direkte Kontakt wertvoll. Schon bald zeigte sich, dass ein erheblicher Teil der jungen Leute nicht dort war, um sich zu berauschen, sondern mangels Alternativen. «Endlich wurden die Jugendlichen in Hochdorf sichtbar und auch angehört», erinnert sich Weingart.

 

Dank dieser Aufklärungsarbeit habe er danach einen «Expansionskurs» starten können. Der multifunktionale Treff 7 entstand. Weingart organisierte Partys und Konzerte für die Jugendlichen. Mit dem Projekt «Sprungfeder» wurden Bands aus der Region gefördert, dem Sieger winkte eine CD-Produktion. Auch die Nutzung der Turnhalle wurde möglich, damit Jugendliche am Wochenende gemeinsam Sport treiben oder einfach zusammen «abhängen» können.

 

Seifenkistenrennen mit 6000 Besuchern

Als Highlight in seinen Jahren als Jugendarbeiter bezeichnet Weingart die Veranstaltung eines Seifenkistenrennens durchs ganze Dorf. Der Start befand sich bei der Kirche, das Ziel vor dem Parkhaus des Seetal Centers. Ein ganzes Jahr dauerten die Vorbereitungen für den Event. Neben der Gemeinde, welche die Bewilligung für die Sperrung des Dorfkerns geben musste, arbeitete die Jugendarbeit mit dem professionellen OK Seifenkisten auch intensiv mit Polizei und Feuerwehr zusammen. Die Idee für das Rennen sei von Jugendlichen gekommen, so Weingart. Sie waren es auch, welche ihre Seifenkisten zusammenbauten. «Zum Glück half die Schule dabei, sonst hätten sie wohl nicht die Ausdauer dazu gehabt», sagt Weingart lachend. Schlussendlich starteten 110 Seifenkisten aus der ganzen Schweiz in Hochdorf, 6000 Leute wohnten dem Spektakel bei. Weil das Ganze so erfolgreich war, gab es nach 2009 zwei Jahre später eine Wiederholung. Danach hätten das OK Seifenkisten und Weingart die Organisation gerne an Hochdorfer Vereine weitergegeben. «Leider kamen sie zum Schluss, dass sich Aufwand und Ertrag nicht lohnen. Wir mussten das Projekt einstellen.»

 

Karl Weingart musste bei seiner Arbeit selten Rückschläge hinnehmen. Aber ab und zu gab es auch solche. So war beispielsweise eine «Spielwiese» im Dorf geplant. Dazu wäre das Zentrum für Autos gesperrt worden und Vereine wie der Badminton-Klub oder die Jubla hätten mit Spielfeldern oder Holzburgen ein Angebot für die Bevölkerung geschaffen. Eigentlich war mit der Gemeinde bereits alles abgemacht, doch der Termin wurde kurzfristig vom Gemeinderat wieder abgesagt, weil der Event auf einen Wahlsonntag gefallen wäre. «Wir waren unglaublich enttäuscht darüber und fühlten uns ziemlich mies», erinnert sich Weingart. Enttäuscht sei auch die Kirche gewesen, welche die Idee stark unterstützt habe.

 

Insgesamt findet Karl Weingart, dass die Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat gut funktionierte. Jedoch habe stets «eine Hohlschuld» bestanden. Zudem sei manchmal auch die Trägheit der Politik ein Problem. «Wenn wir eine Idee für die Jugendlichen haben, können wir nicht zwei Jahre warten bis sie umgesetzt wird, bis dann haben die Jungen bereits wieder neue Ideen und Interessen», so Weingart. Auch beim kürzlich vorgestellten Freiraumkonzept sei die Kommunikation zwischen der Jugendarbeit und der Gemeinde nicht gut gelaufen. «Wir wurden gar nicht informiert, dass ein solches Konzept vorliegt.» Und somit seien die Jugendlichen auch viel zu wenig berücksichtigt worden. «Was sie sich wünschen, ist mehr Aufenthaltsqualität und Sport- sowie Konsumplätze.» Die Idee einer Buvette sei daher der richtige Weg, wenn im gleichen Atemzug aber praktisch nur über den dadurch verursachten Lärm gesprochen werde, sei das «ganz schräg», findet Weingart. «Wer im Zentrum wohnt, muss das akzeptieren können.» Das weitere Problem sei, dass in Hochdorf viele Leute wohnen, welche kein Interesse an einer Belebung der Seetaler Zentrumsgemeinde hätten, findet Weingart. Für ihn ist klar: «Hochdorf muss urbaner denken. Das fehlt bisher.» Weingart sieht jedoch auch Verbesserungen. «Gerade junge Familien haben unsere Angebote zunehmend geschätzt und sich gefragt, was man noch tun könnte, damit im Dorf mehr los ist.»

 

Vaterfigur oder doch eher Kumpel?

Auf die Frage, welche Rolle Karl Weingart gegenüber den Jugendlichen einnimmt, muss er lachen. «Das ist eine gute Frage, ich weiss es manchmal selbst nicht so genau.» Er sei wohl ein bisschen alles: Vaterersatz, Kumpel, Coach. Ihm fällt die spezielle Bindung zu einem kosovarisch stämmigen Jungen ein. «Er war lange Besucher des Treffs, kam zu mir mit seinem ersten Auto, seiner ersten Freundin und auch wieder als sein erstes Kind auf der Welt war.» Der direkte Kontakt bestehe aber nicht zu allen gleich. So weiss Weingart von einer Mutter, die ihm erzählte, dass ihr Sohn oft von ihm spreche und viel von ihm halte. «Er hat mit mir aber kaum je einmal gesprochen. Mir wurde klar, dass meine Funktion einen starken institutionellen Charakter hat.»

 

Wichtig war Karl Weingart immer, dass er sich selbst nicht «jugendlich» gibt. «Ich bin ein Scharnier zwischen der Welt der Erwachsenen und den Jugendlichen.» So könne er auch «knallhart» Grenzen aufzeigen. Das sei insbesondere bei der Vermietung des Partyraums «Boxx» wichtig. Dort können die Jungen ab 18 Jahren selber Events durchführen und die Jugendarbeit fungiert als Vermieter des Raums. Bei den nächtlichen Kontrollen musste Weingart auch schon durchgreifen, wenn der Alkoholkonsum aus den Fugen geriet oder die Musikanlage an die Grenzen ihrer Fähigkeiten gebracht wurde. «Diese Arbeit brauchte Nerven», sagt Weingart und lacht. «Wenn Jugendliche losgelassen werden, wollen sie sofort ihre Grenzen testen.»

 

Social Media: Fluch und Segen

Wenn Karl Weingart die Jugend von heute mit jener vor 16 Jahren vergleicht, fallen ihm diverse Unterschiede ein: Drogen sind auch heute noch ein Thema, der Konsum geschieht aber häufiger unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kiffen sei heute stark verbreitet, weiss Weingart. Auch härtere Drogen würden teilweise konsumiert. «Hochdorf ist in puncto Drogenkonsum nicht so harmlos wie vielleicht viele meinen.»

 

Eine völlig neue Situation sei der Umgang der Jugendlichen mit Social Media. Instagram und Co. seien inzwischen allgegenwärtig. Dabei gehe es nicht immer nett zur Sache. «Schüler haben mir gezeigt, dass sich auf diesen Plattformen Jugendliche mit Migrationshintergrund und Kinder aus den umliegenden Dörfern, die in Hochdorf zur Schule gehen, gegenseitig mit rassistischen Beleidigungen eindecken.» Dieser Konflikt werde zum Teil auf den Pausenhöfen weitergeführt, weiss Weingart. «Rassismus unter Schülern ist ein Problem in Hochdorf und ich hoffe, dass die Schulen da vermehrt ein Auge drauf haben.» Weingart sieht aber auch positive Aspekte an den neuen Kommunikationsmitteln. «Wenn wir einen Event planen und dies auf Instagram teilen, ist die Resonanz oft grös­ser als vorher.»

 

Biel statt Hochdorf?

Die Jugendarbeit begann vor längerer Zeit damit, die Mithilfe der Jugendlichen im Ferienpass und an den Jugendveranstaltungen zu entschädigen. Weingart versteht die Jugendlichen und dennoch ist ihm diese Entwicklung fremd. Er leistete viel Freiwilligenarbeit und erhielt nie eine Entschädigung. «Es geht mir weniger um die kleinen Beträge, welche ausbezahlt werden, als um die Haltung. Wie kann man die Freiwilligenarbeit schützen, dazu animieren sich zu engagieren und wie kann sie weiterhin unentgeltlich bleiben?​​​​​​», frage er sich.

 

Die Antwort wird auf Karl Weingart keinen direkten Einfluss mehr haben. Seine Nachfolgerin Deborah Stephan leitet nun die Geschicke der Jugendarbeit Hochdorf. «Sie und ihr Team stellen einiges auf den Kopf. Das finde ich gut», sagt Weingart ohne Wehmut. Für ihn ist das Kapitel Jugendarbeit abgeschlossen und einher damit geht wohl auch seine Zeit in Hochdorf zu Ende. «Ich könnte mir vorstellen, künftig in Biel zu leben. Diese Multikultistadt reizte mich schon immer.» Ob es aber effektiv so weit kommt, sei noch offen. Wo auch immer Karl Weingart eine neue Bleibe finden wird, Offenheit und Neugier werden ihn stets begleiten. Denn eines hat er von den jungen Leuten in Hochdorf gelernt: «Das hält jung.» 

 

von Jonas Hess

 


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