Freispruch im Doppelpack
Das pralle Leben ist in Aktenmappen verpackt. Hunderttausende Seiten Papier sind in den vergangenen Jahrzehnten auf den Tischen von Othmar Betschart und Angelika Albisser gelandet. Darin ist von Erbstreitereien, Scheidungskriegen, Verkehrsdelikten, von Kindesmissbrauch zu lesen. Von sachlichen Abhandlungen, von Fakten, von Vorkommnissen. Das ist aber nur das eine, was die Akten preisgeben.
Das andere verbirgt sich zwischen den Zeilen. Darin geht es um Menschen, um Schicksalsschläge, um verlorene Arbeitsplätze, um finanzielle Probleme, um schwierige Lebensumstände. Kurz: um die ganze Bandbreite, die das Dasein zu bieten hat. «Wir bekommen das Leben in all seinen Facetten zu spüren», sagt Othmar Betschart. «Wir sehen das Schöne, aber auch in die tiefen Abgründe hinein.» Wenn es einen Satz gibt, den er bedingungslos unterschreiben kann, ist es folgender: «Es gibt nichts, was es nicht gibt.» Schon zu vieles, scheinbar Unvorstellbares hat er in den vergangenen drei Jahrzehnten als Richter erlebt.
Rücktritte nach 30 und 21 Jahren
30 Jahre lang leitete Betschart 35 Mitarbeitende – zuerst als Präsident des Amtsgerichts Hochdorf und später als Bezirksgerichtspräsident. Jetzt sitzt er auf einem Stuhl im Verhandlungssaal – auf jener Seite, wo sonst Zeugen, Angeklagte und ihre Rechtsvertreter Platz nehmen. Am Pult nebenan hat Bezirksrichterin Angelika Albisser Platz genommen. Auch sie verlässt das Gericht – nach 21 Jahren. «Es war ein anspruchsvolles Amt, und ein sehr emotionales», sagt sie und erzählt von Kindesmissbräuchen, von einem Beklagten, der kurz vor der Verhandlung Suizid beging, von Kindern, die in Ehestreitereien hineingezogen werden. «Mit solchen Fällen umzugehen, war nicht immer einfach.»
Aber es gibt auch die andere Seite: So hat Albisser zum Beispiel einen Brief erhalten, in dem sich die Tochter bei der Richterin bedankt, weil sie ihren Eltern geholfen habe, eine Lösung für die finanziellen Probleme zu finden. «Solche Rückmeldungen tun gut», sagt Albisser. Sie seien in den vergangenen Jahren Ansporn gewesen, sich tagtäglich von Neuem für die Menschen einzusetzen.
«Man muss die Menschen gern haben»
Das Bezirksgericht ist in der Region Anlaufstelle für alle zivilen Auseinandersetzungen und eine breite Palette von Straffällen, welche dem Gericht durch die Staatsanwaltschaft überwiesen werden. «Wir haben hier die Möglichkeit, den Leuten unter die Arme zu greifen und die Probleme in einem frühen Stadium anzugehen», sagt Albisser. Was es dazu braucht, ist Empathie. «Und man muss die Menschen gerne haben und die beste Lösungen für alle Beteiligten wollen», sagt Albisser. Einfach ist das nicht – vor allem wenn die Fronten verhärtet sind.
«Wir machen uns nicht nur Freunde»
Das weiss auch Othmar Betschart. «Wir machen uns nicht nur Freunde», sagt er. Niemand komme freiwillig ans Gericht. Mit Anfeindungen, Unverständnis und wütenden Bürgerinnen und Bürgern muss ein Bezirksrichter umgehen können. «Das gehört dazu», sagt der in Hochdorf wohnhafte Betschart. Auch, dass er auf der Strasse ab und zu schief angeschaut wird, weil ihn die Leute erkennen. Mit einer «geschickten Fallverteilung» werde versucht, solche unangenehmen Begegnungen und mögliche Interessenskonflikte auf ein Minimum zu reduzieren. «Wir verteilen die Fälle unter den Richterinnen und Richtern so, dass ihnen die involvierten Personen nicht bekannt sind», sagt Betschart. In der Abteilung III an der Hohenrainstrasse würden beispielsweise «drei Richterpersonen arbeiten», die nicht im Seetal wohnen. «Das macht vieles einfacher», so Betschart.
Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe
Die Nähe und Vertrautheit der Richterinnen und Richter zum Gerichtsstandort hat aber auch Vorteile, da die lokalen Eigenheiten bekannt sind. «Wir sind nicht lebensfremd und keine Paragrafenreiter», sagt Betschart. «Wir versuchen pragmatische und adäquate Lösungen zu finden, im Rahmen des gesetzlich möglichen.»
Gut 2000 Fälle verhandeln die 12 Richterinnen und Richter des Bezirksgerichts Hochdorf pro Jahr. Wie viele er selbst in den vergangenen 30 Jahren erledigt hat, weiss Betschart nicht. Es werden Tausende sein. Aber diese Zahl sei irrelevant. «Ich habe immer versucht, den Leuten das Gefühl zu vermitteln, dass ihr Fall der einzige ist.» Egal, ob es sich um einen Familienstreit handelt oder um einen notorisch Straffälligen. «Entscheidend ist immer der Einzelfall.»
Doch nicht immer gehen Recht und Gerechtigkeit Hand in Hand. Wie geht ein Richter damit um? «Für die Betroffenen und auch für mich als Richter ist das ein Dilemma. Man erhofft sich absolute Gerechtigkeit, aber eine solche gibt es nicht immer.» Es gebe Fälle, in denen die Sachlage eigentlich klar erscheine, aber die Beweise fehlen. Manchmal seien Zeugenaussagen an der Grenze von Wahrheit und Lüge – trotz Hinweis auf die Straffolgen einer Falschaussage. «Aber wenn sich nichts beweisen lässt, kann ein Richter keine Strafe aussprechen.» Geliebt werde man bei solchen Entscheiden nicht, sagt Betschart und fügt an: «Trotzdem konnte ich mir keinen schöneren Job vorstellen.» Einen Wechsel in eine nächst höhere Instanz habe er nie angestrebt – obwohl es Angebote gegeben habe. «Mich hat immer die Breite und Unmittelbarkeit interessiert, auf die man beim Bezirksgericht trifft.» Zudem sei er im Seetal verwurzelt.
In der Region verankert
Die Verbundenheit zur Region teilt er mit Angelika Albisser, die in Hämikon lebt. Beide waren und sind privat in verschiedenen Stiftungen, Kommissionen, Verwaltungsräten und Organisationen tätig. Betschart hat zum Beispiel die Errichtung des medizinischen Zentrums in Hochdorf und die Gründung der Residio AG mitinitiiert. Ebenso engagierte er sich im Kulturverein Braui, für die Regionalbibliothek und für den Erhalt der Villa Hofstetter in Hochdorf. Zudem war er während 17 Jahren Präsident der Schulkommission der Kantonsschule Seetal und hat die Zusammenlegung der Standorte Hochdorf, Baldegg und Hitzkirch zu einem forciert – ehe er dieses Amt 2013 an seine Nachfolgerin übergab: Angelika Albisser.
Dieses Engagement für die Region wollen beide auch nach ihren Rücktritten am Gericht beibehalten. Albisser, 54 Jahre alt, will sich beruflich neu ausrichten und «private Projekte, auch mit sozialem Bezug» realisieren, wie sie sagt. Und Betschart, 66 Jahre alt, sieht sich längst nicht als Pensionär, sondern als aktiver «Privatier».
Und was gibt der abtretende Bezirksgerichtspräsident seiner Nachfolgerin mit auf den Weg (siehe Kasten)? Betschart sagt: «Ein gut funktionierendes Gericht mit einem eingespielten Team, fachlich und menschlich.» Auf ein erfahrenes Team zurückzugreifen sei umso wichtiger, da die zu behandelnden Fälle immer komplexer werden und die Erwartungshaltung gestiegen sei. «Manchmal ist es wie beim Arztbesuch, jeder informiert sich vor dem Termin im Internet und stellt sich selbst die Diagnose», sagt Betschart. Dass die Sachlage aber längst nicht immer so eindeutig ist, wie gemeinhin angenommen wird, verstehen nicht alle.
Eine Tendenz zu immer mehr Beschwerden und Anfechtungen beobachtet auch Albisser. «Wir haben in den vergangenen Jahren nicht unbedingt mehr, aber dafür aufwendigere Fälle behandelt.» Früher habe man beim Gericht möglichst schnell eine Lösung angestrebt – und war eher zu Kompromissen bereit. Heute sei die Tendenz feststellbar, dass jeder und jede auf der eigenen Meinung beharre. «Die Toleranz der Gesellschaft hat abgenommen. Heute streitet man sich auch um Nichtigkeiten und kleinste Geldbeträge», sagt Albisser.
von Christian Hodel
Neue Richter bereits gewählt
Die Ersatzwahl an das Bezirksgericht Hochdorf durch den Luzerner Kantonsrat fand bereits am 16. März statt. Stefan Wüest, Richter am Bezirksgericht Kriens, wechselt an das Bezirksgericht Hochdorf und übernimmt das Amt des Abteilungspräsidenten. Stephanie Günter-Jans wird neu Bezirksrichterin am Bezirksgericht Hochdorf. Die Rechtsanwältin ist zurzeit als Projektleiterin bei der Dienststelle Verkehr und Infrastruktur (vif) des Kantons Luzern tätig, wie die Luzerner Gerichte mitteilen.
Neue Bezirksgerichtspräsidentin ist Dr. Cornelia Jozic, welche dem Bezirksgericht Hochdorf seit 2011 angehört.
Vier Bezirksgerichte im Kanton
Der Kanton Luzern besteht aus den vier Gerichtsbezirken Luzern, Kriens, Willisau und Hochdorf. Sie beurteilen unter anderem erstinstanzlich Zivilstreitigkeiten. Zudem sind sie die unteren Aufsichtsbehörden im Schuldbetreibungs- und Konkurswesen. Im Familienrecht bieten die vier Bezirksgerichte einmal wöchentlich unentgeltliche Rechtsauskünfte an.
Das Bezirksgericht Hochdorf beschäftigt rund 35 Angestellte, davon 12 Richterinnen und Richter. Es umfasst neben den Seetaler auch folgende Gemeinden: Rothenburg, Emmen, Ebikon, Dierikon, Root, Honau, Gisikon und Buchrain. pd/chh
Newsletter
Melden Sie sich hier kostenlos für unseren Newsletter an und erhalten Sie die neusten Nachrichten aus der Region Willisau, dem Wiggertal, dem Kanton Luzern und Sport regelmässig am Morgen in Ihr E-Mail-Postfach.
Anmelden
Kommentieren & mitreden
Sie wollen diesen Artikel kommentieren? Kommentieren Sie sachlich, respektvoll. Wir freuen uns.
Hier registrieren und vollen Zugang erhaltenSie haben bereits ein Konto ?
Zur Anmeldung